Im Dezember 2019 wurden Anthroposophie.Blog die aktuellen Anmeldeformulare der Freien Waldorfschule Kiel zugespielt. Die Veröffentlichung der Formulare auf Twitter sorgte für „bundesweite Diskussionen“, so die Kieler Nachrichten. Der Moderator und Satiriker Jan Böhmermann hatte kurz darauf die Formulare auf Twitter populär gemacht und in seinem Podcast Fest & Flauschig zusammen mit Olli Schulz darüber berichtet:
Jan Böhmermann: „Warum muss man bei der Schule, wenn man da sein Kind anmeldet, extra solche Sachen angeben?“. Olli Schulz: „Wenn ich sowas höre, muss ich im Strahl kotzen“.
Schnell nahmen verschiedene Medien das Thema auf. Auch das Bildungsministerium von Schleswig-Holstein schaltete sich ein: „Wir werden nunmehr im Rahmen der Rechtsaufsicht über die Waldorfschule Kiel prüfen, inwieweit der Aufnahmebogen die rechtlichen Anforderungen einhält.“
Anmeldeformular der Freien Waldorfschule Kiel
Auslöser: Hitzige Debatte nach Tweets von @AnthroBlogger
Zum Anmeldeformular wollte ich bei Twitter wissen:
Tweet: „Aufnahmeformular einer „Freien #Waldorfschule„. Sind die Fragen noch berechtigt? Oder findet bereits ein Eingriff ins Familienleben statt? Von der Art der Geburt über das Fernsehverhalten des Kindes bis hin zum Zahnstand müssen die Eltern ausführliche Einblicke geben.“
Eine große Mehrheit der Twitter-User empfand die Fragen als übergriffig und zu privat. Weiter stellte ich fest:
Tweet: „Fragen zu „Kinderkrankheiten“ und Impfungen können durchaus sinnvoll sein. Vor dem Hintergrund des weit verbreiteten #Impfgegner an den esoterischen Privatschulen haben die Fragen aber zumindest ein Geschmäckle.“
Tweet: „Wie lange sieht ihr Kind fern, spielt mit Smartphone oder Computer?“. Ein Hinweis auf die esoterisch begründete Technikfeindlichkeit der Schulen. Bekommt man für TV & Tablet ‚Minuspunkte‘? Fernseher wurden bei #Waldorf jahrzehntelang streng abgelehnt.“
Tweet: „Angaben zur Geburt“, „Wie lange wurde gestillt?“. Was geht es die Schule an? Ist das für die Schullaufbahn wichtig? „Natürliche“ Geburten, der Gang zum anthroposophischen „Mediziner“ und die Verwendung der Hellseher-Mittelchen werden recht gerne gesehen.
Tweet: „Hat ihr Kind bereits einen Zahnwechsel? Sind Backenzähne zu sehen?“. Hier geht es den esoterischen Schulen um die Jahrsiebtelehre, nach der ein Kind erst lesen & schreiben darf, wenn es seinen „Ätherleib“ wiedergeboren hat: Das erkenne man den Zähnen.
Tweet: „Kommt vor, dass auch Kinder bei der Schuleingangsuntersuchung ausführlich „ausgequetscht“ werden. Eine 16jährige musste u. a. Fragen zu ihrem Privatleben und Jungs in der Klasse beantworten. Auch die Ohren wurden untersucht – ist sie Dämon oder Schulkind?
Reaktion der Freien Waldorfschule Kiel
Auf Anfrage der Kieler Nachrichten ging die Freie Waldorfschule Kiel auf Konfrontationskurs, ohne dabei auch nur im Ansatz auf Fragen oder Kritik einzugehen.
Die Ablehnung kritischer Rückfragen ist insofern verständlich, als die esoterischen Privatschulen zwar traditionell in der Kritik stehen, sich aber ebenso traditionell über jegliche Anfeindungen erhaben fühlen. Ein Staat, der die hellseherisch begründete „Waldorf-Pädagogik“ ohne jegliche Kontrollen durchfinanziert, tut dazu sicher sein Übriges.
Der Kieler Waldorf-Geschäftsführer Murat Özmen „bleibt gelassen„, so die Kieler Nachrichten:
„Es ist leider gängige Praxis mancher Waldorfkritiker, nur Teile einer
Rede oder eines Dokuments zu veröffentlichen und den Rest nicht zu
beachten. So auch in diesem Fall.“
Özmen zielt darauf ab, dass das personalisierte Anschreiben, welches zum Fragebogen gehört, nicht veröffentlicht wurde. Das ist in der Sache richtig, denn das Anschreiben lag mir nicht vor. Im Anschreiben wäre der Hinweis darauf, dass das Formular freiwillig sei, „fettgedruckt und unterstrichen“ zu lesen. Die Beantwortung oder Nicht-Beantwortung des Fragebogens habe keinen Einfluss auf die Aufnahme eines Kindes.
Geschäftsführer Murat Özmen gibt weiter an:
„Daher reagieren wir üblicherweise nicht auf jede Kritik, die einseitig ist und nur schaden will, aber nicht Aufklärung oder Gespräch im Sinn hat“
Reaktion des Bildungsministeriums Schleswig-Holstein
Laut Informationen des zuständigen Redakteurs der Kieler Nachrichten hat sich das Bildungsministerium von Schleswig-Holstein zu den Vorgängen nach der Anfrage durch die Zeitung nicht weiter geäußert. (Stand: Januar 2020)
Podcast Fest & Flauschig über das Anmeldeformular der Freien Waldorfschule Kiel
Im Podcast Fest & Flauschig von Jan Böhmermann und Olli Schulz (Folge: Provinzielle Verhältnisse vom 15. Dezember 2019, ab Min. 23:30) diskutieren die Moderatoren über das Formular:
Böhmermann: „Apropos Schule, Olli, ich habe einen schönen kleinen Fragebogen für Dich ausgebuddelt beim Surfen, und zwar für die Freie Waldorfschule Kiel. Es ist der Fragebogen, wenn man sein Kind anmelden möchte. Ich halte diesen Fragebogen, den ich hier vor mir sehe, für authentisch. Diese Fragen muss man beantworten als Eltern, wenn man sein Kind an der Freien Waldorfschule Kiel – ich weiß nicht, es gibt es auch viele andere Schulen, der ist von dieser Schule – anmelden möchte.“
Schulz: „Ist da ’ne Steiner… ist das die von Steiner?„
Böhmermann: „Ja, ja, eine Waldorfschule. Mit Eurythmie und dem ganzen Bums. Es geht einfach los mit Name, Vorname und Adresse, Geschlecht des Kindes, Geburtsdatum, Nationalität, Leibliches Kind, Pflegekind muss man angeben. Bei wem lebt ihr Kind hauptsächlich, sofern es unterschiedliche Anschriften der Erziehungsberechtigten gibt. Anzahl der Geschwister, jünger, älter? Angaben zum Kindergarten, Angaben – jetzt kommt´s – zur Geburt: War es eine Normalgeburt, war es ein Kaiserschnitt, eine Frühgeburt in der soundsovielten Schwangerschaftswoche, eine Mehrlingsgeburt, gab es Komplikationen? Nein, ja, wenn ja – welche? Ne – bei der Anmeldung zu einer Schule! Zu einer Schule.“
Schulz: „Vielleicht am besten noch ein Foto von der Geburt?“
Böhmermann: „Frühkindliche Entwicklung? Laufen gelernt bis zum 18. Monat, ja, nein? Wie lange schläft ihr Kind und so weiter, wie ist der Appetit. Dann so Sachen wie: Was ist die Lieblingsbeschäftigung ihres Kindes? Wie ist das Verhältnis zu anderen Kindern? Wie lange sieht ihr Kind durchschnittlich pro Tag fernsehen? Oder spielt mit Smartphone, Tablet, Computer? Machen Sie sich Sorgen um die Entwicklung oder das Verhalten Ihres Kindes?“
Schulz: „Puh…“
Böhmermann: „War ihr Kind längere Zeit in ärztlicher Behandlung? Ihr Kind kann Rad fahren, schwimmen… Als ich das durchgelesen habe, diesen Fragebogen, habe ich gedacht, sag mal ist das so? Muss man sowas immer machen? Es gibt doch auch eine schulärztliche Untersuchung. Die gibt’s pflichtmäßig sowieso in jedem Bundesland muss das Kind vorher einmal untersucht werden. Warum muss man bei der Schule, wenn man da sein Kind anmeldet, noch mal extra solche Sachen angeben?!“
Schulz: „Ich glaub‘ weil einfach eine Waldorfschule auch irgendwie – nicht spirituell, aber nun mal sehr naturverbunden, und sehr… das ist alles so psychologisch auch bei denen, glaube ich. Die wollen wissen, hast Du gelitten, das wird alles hinterfragt. Ich wollte ja auch – das kann ich ja ruhig erzählen – auf so eine Waldorfschule gehen. Ich hab‘ ja keine gekriegt, das ist ja alles überfüllt in Berlin. Ich bin da hingegangen, schon vor ein paar Wochen, mit Nora Tschirner, weil die mal eine Waldorflehrerin gespielt hat in „Keinohrhasen“ [beide lachen]. Und ich hab gesagt, Nora, komm mal bitte mit, die freuen sich, wenn sie dich sehen. Hat natürlich alles nicht geholfen, wie haben keinen Platz bekommen. Ich war ziemlich verzweifelt, weil ich glaube ich eine Waldorfschule an sich, vom Ansatz her, gut finde, andererseits aber auch wenn ich sowas höre auch komplett im Strahl kotzen muss, warum die sowas wissen wollen.“
Böhmermann: [wird laut] „Wie lange wurde ihr Kind gestillt? Was hat das denn im Einschulungs-Fragebogen zu suchen? Was interessiert das denn bitte, wie lange ein Kind gestillt wurde? Und vor allem, wer weiß das denn noch so genau?“
Schulz: „Das will ich auch nicht angeben. Dann sagt man eben, kein Kommentar. Das würde ich auch alles nicht angeben. Ich weiß nicht, warum die das wissen wollen. Aber Du wirst sicher morgen oder übermorgen eine Mail von einer Hörerin bekommen, die Dir genau das Konzept von einer Waldorfschule noch mal erklären wird.“
Böhmermann: „Bitte nicht! Bitte schreibt mir nichts, ich will nichts hören vom Waldorf-Konzept.“
Schulz: „Ich weiß nicht, Du bist kompletter Gegner von Waldorfschulen, oder?“
Böhmermann: „Nein, ich bin absoluter Fan von staatlichen Bildungseinrichtungen, die nicht in irgendeiner Trägerschaft sind, die irgendwie ideologisiert oder mit Religion zu tun hat. Schulen gehören in die Hand von staatlichen Trägern… und in Nordrhein-Westfalen ist es zum Beispiel so, dass da 50% der Schulen in kirchlicher Trägerschaft sind. Das heißt, das bedeutet, es ist in einigen Stadtteilen gar nicht zu vermeiden, dass selbst wenn Du Moslem bist oder Atheist oder Agnostiker, oder mit dem ganzen Scheiß nix zu tun haben möchtest, dass Du Deine Kinder in eine Schule schicken musst, wo morgens gebetet wird. Weil die nächste halt zu weit weg ist, oder die mit dem Bus fahren müssen. Und das ist wirklich echt scheiße.“
Schulz: „Bin ich ganz Deiner Meinung! Staatliche Schulen, die nicht irgendwie religionsverbunden sind, wo Du einfach hingehst, lernst und sonst was… das Problem ist, das wir einfach ganz schön mit staatlichen Schulen – vor allem hier in Berlin – am hinken sind. Wir sind an einer sehr guten Schule eigentlich. Die geben ihr Bestes. Trotzdem weiß ich auch, dass nicht jedes Kind da gerecht behandelt wird… darüber müssten wir echt `ne eigene Sendung machen. Ich glaube auch, im Januar oder Februar machen wir das.“
Böhmermann: „Haben wir das nicht schon mal angekündigt? Wir wollten mal eine Schulsendung machen!“
Schulz: „Und das machen wir auch. Und dafür haben wir auch die Hotline, da können wir wirklich mal mit Lehrerinnen reden, und das ist jetzt auch nicht nur Gefasel, das werde ich durchsetzen, mit strenger Hand, weil mich das nämlich auch… und ich weiß auch, dass Dich das interessiert.“
Böhmermann: „Ja, das tut´s auch.“
[Es folgt eine kurze, nicht ganz jugendfreie Passage]
Schulz: „Aber Du hast vollkommen recht, ich finde es auch befremdlich mit Waldorfschulen.“
Presseberichte über „Private Fragen“, „Intime Details“ und einen „Bizarren Fragebogen“
Kieler Nachrichten: „Private Fragen: Streit über Anmeldung an Waldorfschule„
„Auslöser ist ein Beitrag auf dem Nachrichtendienst Twitter, auf dem der
Fragenkatalog veröffentlicht wurde. „Sind die Fragen noch gerechtfertigt?
Oder findet bereits ein Eingriff ins Familienleben statt?“, möchte der Verfasser, Oliver Rautenberg, wissen.
Der Anmeldebogen der Waldorfschule war dem Bildungsministerium bislang nicht bekannt. „Wir werden nunmehr im Rahmen der Rechtsaufsicht über die Waldorfschule Kiel prüfen, inwieweit der Aufnahmebogen die rechtlichen Anforderungen einhält“, teilte ein Sprecher auf Nachfrage von KN-online mit.“
RTL Nord: „Intime Details erwünscht: Diskussionen um Anmeldebogen von Kieler Waldorfschule„:
„Wie geht es jetzt weiter mit der Casa Waldorf-Bogen?
Das Individuum ist der Waldorfschule also wichtig. Warum aber zum Verständnis des einzelnen Schülers Details über Stillzeiten und Geburtsbedingungen von Nöten sind, dazu hat sich die Schule bisher konkret nicht noch einmal geäußert.
Weil Waldorfschulen selbstständig arbeiten, sind sie grundsätzlich nur den eigenen Lehrern und Eltern rechenschaftspflichtig. Kein staatlicher Schulrat kontrolliert sie.“
Hamburger Morgenpost: „Wie lange wurde Ihr Kind gestillt? Bizzarer Fragebogen an Kieler Waldorfschule„:
„Intime Details: Eine Waldorfschule in Kiel hat mit ihrem Anmeldefragebogen bundesweit Diskussionen ausgelöst. Darin stellt die Schule unter anderem sehr private Fragen nach der Stillzeit des Kindes, dessen Fernsehkonsum und seinem Appetit. (…) Für viele Eltern eine deutliche Grenzüberschreitung.
Waldorfschulen müssen sich immer wieder Kritik gefallen lassen, da sie ein alternatives Erziehungskonzept anbieten, das teilweise auch mit spirituellen Elementen arbeitet.“