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Gerade jetzt! – Thüringer WaldorfschülerInnen reisen trotz Krieg nach Moskau

SchülerInnen der Waldorfschulen in Weimar und Erfurt fuhren im Winter 2023 zu einem Schüleraustausch nach Russland. Trotz des seit einem Jahr tobenden russischen Angriffkrieges auf die Ukraine besuchten die PrivatschülerInnen auch den Präsidenten-Sitz in Moskau. Ihre Reise könnte rechtswidrig gewesen sein.

Jugendliche SchülerInnen der Waldorfschulen Weimar und Erfurt besuchten im Februar 2023 für zwei Wochen ihre Partnerschulen in Moskau. Genau ein Jahr zuvor hatte Russland die völkerrechtswidrige Invasion der Ukraine begonnen, die noch heute andauert. Zuerst hatte darüber das Anthroposophie.blog auf Twitter berichtet.

Da wegen des Krieges keine Direktflüge nach Russland zur Verfügung standen, sei man mit dem Linienbus zunächst nach Kaliningrad gefahren, ist in einem inzwischen gelöschten Reisebericht auf der Webseite des Deutsch-Russischen Forums zu lesen. Von Kaliningrad ging es per Flug nach Moskau, wo die Reisegruppe auch den Kreml besuchte. Im Kreml befindet sich auch der Senatspalast, der Sitz des Präsidenten der Russischen Föderation.

Der russische Präsident Putin wird seit März 2023 mit einem Haftbefehl des internationalen Strafgerichtshofs gesucht. Es bestehe der begründete Verdacht, dass Russlands Präsident für die Deportationen ukrainischer Kinder nach Russland verantwortlich ist. Auch Putins Präsidialkommissarin für „Kinderrechte“, Marija Lwowa-Belowa, wird wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen gegen die Ukraine gesucht.

Russlandreisen sind Waldorf-Tradition

Russischunterricht ist eine alte Tradition an Waldorfschulen. Die esoterischen Privatschulen, die im Schnitt zu drei Vierteln staatlich finanziert werden, basieren auf der esoterischen Weltanschauung „Anthroposophie“ des österreichischen Verschwörungstheoretikers und selbsternannten „Hellsehers“ Rudolf Steiner.

Schon 1916 verbreitete der Schulgründer Steiner Verschwörungsmythen über den ersten Weltkrieg und einen angeblichen „Kampf um den russischen Kulturkeim„:

Im Krieg „tonangebend“ sei eine „Gruppe von Menschen, welche die Erde beherrschen wollen“ – und zwar durch „kapitalisitische Wirtschaftsimpulse“. Der Konflikt werde erst enden, wenn „Deutschtum und Slawentum sich zu dem gemeinsamen Ziele der Menschen-Befreiung vom Joche des Westens zusammengefunden haben.

Schon seit dem Ende des zweiten Weltkrieges reisen viele Waldorfschulen nach Russland, darunter Schulen aus Berlin, Bremen, Coburg, Dresden, Hagen, Jena, Kassel, Münster und Tübingen. Der Grund dafür ist auch eine esoterischer: Die östliche Sprache habe “eine besondere, belebende Wirkung auf das abendländische Seelenleben„, schreibt dazu ein Waldorfschulen-Magazin. Auch die Waldorfschule Erfurt betont die positive Wirkung auf die „Seele„:

Sprache ist der Besitz einer weiteren Seele. (…) Mit Russisch öffnet sich ein völlig neuer Kulturkreis, eine neue andere Welt. Sprache ist Denken und die slawische Kultur hat die deutsche über Jahrhunderte beeinflusst. Um sich selbst zu verstehen, müssen wir die Welt um uns verstehen. Nach allen Himmelsrichtungen. Auch nach Osten. Früher wanderten die Europäer der aufgehenden Sonne entgegen, in die neue Welt. Ergründen wir, warum und was es heute dort zu erfahren gibt.“ (Waldorfschule Erfurt, „5 Gründe Russisch zu lernen„, 2015)

Die Sympathie zu Russland beruht auf Gegenseitigkeit: 2010 zeigte der russische Staatssender NTV den Präsidenten Wladimir Putin beim Besuch einer russischen Waldorfschule. Putin verlieh dort den Preis „Lehrer des Jahres“ und lobte die esoterische Privatschule: „Solche Bildungseinrichtungen sind die Zukunft„.

Russischer Angriffskrieg wird bagatellisiert

„Schüler und Lehrer [sic!] an der Moskwa nach der Kreml-Besichtigung“. Foto: Deutsch-Russisches Forum

Die Schülerinnen lebten bei russischen Gastfamilien aus der Moskauer Waldorfschule und gingen vormittags zum Waldorf-Unterricht, nachmittags gab es Ausflüge – unter anderem zum Kreml. Außer der Reisegruppe seien laut einem Reisebericht „fast keine westeuropäischen Menschen“ in Moskau zu sehen gewesen. Im Bericht wird der vökerrechtswidrige Angriffskrieg als einfacher „Konflikt“ bagatellisiert:

Die vieldiskutierten Konflikte liegen in der globalen Politik, aber auf keinen Fall in den einzelnen Menschen und der Bevölkerung der Länder. Es fühlt sich genau richtig an, dass wir gerade jetzt diese Reise unternommen haben!“ (Reisebericht der Waldorfschulen Weimar und Erfurt im Deutsch-Russischen Forum)

Eine Woche später reiste die Gruppe per Nachtzug und Bus in das 500 Kilometer entfernte Kirilov nahe der Gebietshauptstadt Wologda. Für eine anthroposophische Demeter-Initiative arbeiteten die Jugendlichen im winterlichen Wald. Ein anthroposophisches Magazin lobte im April die beteiligten Waldorfschulen, die diese Reise „trotz der Kriegsumstände gewagt“ hätten.

Der Reisebericht gibt sich kämpferisch: „Gerade jetzt!“ solle man nach Russland fahren: „Es fühlt sich genau richtig an.

WaldorfschülerInnen als Waldarbeiter eingesetzt

In Kirilov habe man „täglich gemeinsam gearbeitet„: Die „Kinder„veredelten dabei Apfelbäume, sammelten Totholz und entasteten Bäume. Auf Fotos ist zu sehen, wie die WaldorfschülerInnen – offenbar ohne jegliche Sicherheitsvorkehrungen – auf unfachgemäße Art Bäume fällen und in Baumkronen klettern. Bereits 2017 zeigte die „Thüringer Allgemeine“ Weimarer WaldorfschülerInnen in Shorts oder gänzlich ohne schützende Hosen beim Wald-Arbeiten mit Sägen und Äxten.

Die eigens aus Deutschland mitgebrachten, zahlreichen Sägen hätten bei Grenzkontrollen zwar für „Aufmerksamkeit“ gesorgt, seien aber „immer wohlwollend durchgewunken“ worden.

WaldorfschülerInnen bei Waldarbeiten in Russland. Foto: Deutsch-Russisches Forum.

Gerade auch die Eltern der SchülerInnen hätten durch den Austausch „einen ganz anderen Blick auf die Weltlage und auf die Menschen in Deutschland und Russland bekommen„.

Ein Gegenbesuch der russischen WaldorfschülerInnen habe im April 2023 stattgefunden. Dabei habe die Anreise „über die Türkei“ erfolgen müssen, die Erteilung der Visa durch die Deutsche Botschaft sei eine „Herausforderung“ gewesen. Auch die Besucher hätten „eine Woche handwerklicher Arbeit in Mecklenburg-Vorpommern“ geleistet: Beim „Strohlehmbau„, in einer „Biobäckerei“ und bei der „Obstbaumpflege„. Bei der Finanzierung habe der „gemeinnützige Verein Biologisch-Dynamische Bildung und Forschung in Russland“ geholfen. Für den Aufbau zweier weiterer Demeter-Betriebe sammele der Verein Spenden.

Reise-Organisator ist Querdenken-Aktivist

Vorstand des biodynamischen Vereins und Verfasser des Berichtes über die „bewegende Reise“ ist der Thüringer Prof. Dr. Frank Scholwin, der für die Universität Rostock tätig war.

Scholwin, der die Gruppe als Waldorf-Vater begleitete, ist Aktivist der rechtsgerichteten und in Teilen offen antisemitischen Querdenker-Partei „die Basis“. Die Kleinpartei, die aus den Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen entstand, ist stark von der Anthroposophie des Waldorfschulen-Gründers Rudolf Steiner geprägt.

In einem offenen Brief von „die Basis“ Thüringen an die Stadt Weimar hatte Scholwin 2021 die Verleihung des Menschenrechtspreises der Stadt Weimar an den umstrittenen Corona-Leugner Prof. Sucharit Bhakdi gefordert.

Offener Brief von Waldorfvater und dieBasis-Aktivist Frank Scholwin. Quelle: Die Basis, Thüringen

Bhakdi hatte sich öffentlich antisemitisch geäußert und wurde wegen Volksverhetzung angezeigt. Das Verfahren wurde eingestellt, was zu Protesten jüdischer Vereinigungen geführt hatte. Im Mai 2022 wurde Bhakdi erneut wegen Volksverhetzung angeklagt; das Amtsgericht nannte seinen Vergleich einer Impfpflicht mit dem Holocaust „inakzeptabel“, aber von der Meinungsfreiheit gedeckt. Die Generalstaatsanwalt legte Berufung ein. Der Fall soll 2024 neu verhandelt werden.

War die Russland-Reise rechtswidrig?

Für die Thüringer Schulen gilt ein Verbot von Russland-Reisen. Bereits am 25. Februar 2022, nur einen Tag nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, hatte das Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport unter Kultusminister Helmut Holter alle Schul-Reisen nach Russland untersagt. Das Schreiben liegt Anthroposophie.blog vor.

Mit Blick auf die aktuelle Lage habe ich darüber hinaus festgelegt, dass schulische Fahrten und Reisen sowie Dienstreisen in das Konfliktgebiet Ukraine und Russland bis auf weiteres ausgesetzt werden.
Lassen Sie uns gemeinsam besonnen bleiben und im Sinne der Kinder und Jugendlichen für Frieden und ein friedliches Miteinander eintreten.
“ (Kultusminister Helmut Holter, Ministerium für Bildung, Jugend und Sport, 25. Februar 2022)

Demnach hätten die beiden Waldorfschulen gegen das ausdrückliche Reiseverbot des Kultusministeriums verstoßen. Auch ob die Reise der Waldorfschüler mit der Allgemein Schulpflicht in Deutschland zu vereinbaren ist, ist bislang offen. Der Aufenthalt der Gruppe in Moskau fiel zwar in die Ferienzeit in Thüringen – ihr Aufenthalt in Kirilov jedoch nicht.

Kommentatoren betreiben Täter-Opfer-Umkehr

Ob rechtswidrig oder nicht – zur Russland-Reise gibt es positive Kommentare von „zu Tränen gerührten“ AnthroposophInnen. So schreibt im Kommentarbereich von „Das Goetheanum“ der User ‚Wilfried Dahmen‘:

„Wie wunderbar, dass es in der verqueren Welt des regierungsamtlichen Boykott-Irsinns und der sinnentleerten Sanktionen die andere Welt der persönlichen Begegnungen gibt.“

Kritik an der Fahrt in das Land eines „mordenden Diktators“ wird mit perfider Täter-Opfer-Umkehr begegnet. Der wahre „Dikator“ sitze in der Ukraine, schreibt User ‚Klaus Stieber‘:

„Ich empfehle Ihnen in die Ukraine zu fahren und dort aktiv gegen den „sinnlos mordenden größenwahnsinnigen Diktator“ zu kämpfen.“

Waldorfschulen in Kritik: Querdenken, Impfgegnertum und drastische Gewalt

Die deutschen Waldorfschulen gelten seit Jahrzenten als Hochburgen von ImpfgegnerInnen. Seit der Corona-Pandemie sind sie auch wegen der weit verbreiteten Nichteinhaltung der staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen und der Beteiligung an öffentlichen Corona-Protesten in Kritik.

Die Freie Waldorfschule Erfurt-Bischleben wurde wegen extrem geringen Durchimpfungsraten von nur 60% in 2015 zum Masern-Hotspot; erforderlich sind 95%. Die Thüringer Allgemeine berichtete. Laut zahlreichen internationalen Studien und nach Angaben der World Health Organization (WHO) tragen „ungeimpfte Gruppen“ wie die der Anthroposophen eine Mitschuld daran, dass die potentiell tödliche Krankheit nicht ausgerottet werden kann.

Die Freie Waldorfschule Weimar steht wegen jahrzehntelang andauernden Gewalt-Exzessen gegen SchülerInnen in Kritik. Ein Dutzend Lehrkräfte Schule prügelten und demütigten Schüler mehr als 15 Jahre lang. Weder die Gremien der Schulleitung, die Lehrkräfte noch die Elternschaft stoppten die Gewalt in dem „sektenähnlichen“ System. Im Gegenteil: Eltern, die sich beschwerten, wurden angegriffen. Anthroposophie.blog berichtete. Selbst die zuständigen Ministerien erhielten kaum Einblicke in das sektenhafte System der Weimarer Schule. Die Gewaltvorwürfe sind auch drei Jahre nach Bekanntwerden noch nicht aufgearbeitet.

Die Weimarer Corona-Proteste unter dem Titel „Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit. Stärken wir unser demokratisches Immunsystem!“ wurden laut mehrere Quellen aus der Waldorfschule heraus organisiert (Anthroposohie.blog berichtete). Lehrkräfte fungierten als Ordner und verteilten Flugblätter.

Waldorfschule nennt Berichte ‚Falschdarstellung‘

Die Reise der SchülerInnen, die in Moskau am Unterricht einer Waldorfschule teilnahmen, wird im Reisebericht als „Schüleraustausch“ bezeichnet.

Auch die anthroposophische Zeitschrift „Das Goetheanum“, benannt nach dem von Rudolf Steiner erbauten Schweizer Anthroposophie-Hauptsitz „Goetheanum“, spricht in einem Artikel von April 2023 mehrfach vom „Schüleraustausch“, den die „Kinder“ trotz der „Kriegsumstände gewagt“ hätten.

Doch die Freie Waldorfschule Erfurt dementiert. In einer am 29.09.2023 vom Schulbüro der Waldorfschule veröffentlichten „Richtigstellung“ dementiert die Schule angeblich „nicht den Tatsachen entsprechende“ und „falsche Darstellungen“ der Medien: Einen „Schüleraustausch“ habe es nicht gegeben:

Zurzeit kursieren auf öffentlichen und privaten Medienkanälen Berichte über einen „Deutsch – Russischen – Schüleraustausch“ im Februar 2023. Diese Darstellung entspricht nicht den Tatsachen, sie ist falsch! Im Zeitraum von 2017 bis 2021 gab es insgesamt vier Fahrten nach Russland im Rahmen eines Schüleraustausches. Seitdem hat es keinen weiteren Schüleraustausch nach Russland bzw. mit einer russischen Schule gegeben.“ (Freie Waldorfschule Erfurt, „Richtigstellung von Medienberichten„, 29. September 2023)

Gegen die bereits vor Monaten veröffentlichten Berichte über den „Schüleraustausch“ auf anthroposophischen Webseiten hatten die Schulen bislang nicht protestiert.

Reisebericht wurde gelöscht

Nach der gestrigen breiten medialen Berichterstattung hat das Deutsch-Russische Forum den kritisierten Reisebericht kommentarlos von seiner Webseite gelöscht. Eine Kopie davon findet sich Internet-Archiv ‚Archive.org‘.

Auch auf den Webseiten der Waldorfschulen Erfurt und Weimar sind keine Informationen zu den Russland-Reisen zu finden. Der auf der Webseite der Weimarer Schule verlinkte „Schuljahresplan 2023-2024“ ist aktuell nicht mehr abrufbar. Es erscheint dort nur eine Fehlermeldung.

Auch die betroffenen Waldorfschulen sind an der Aufklärung der Geschehnisse offenbar nicht interessiert. Ob das Thüringer Kultusministerium in der Sache tätig werden wird, ist bislang unklar.

Oliver Rautenberg


Die Recherchen von Anthroposophie.blog wurden bereits von zahlreichen Medien aufgenommen:

Foto von Maxim Shklyaev

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