In Zeiten von Corona treibt es Teile der Waldorfschul-Bewegung zum Messaging-Dienst Telegram. In halb-öffentlichen Gruppen wird gegen Staat und Presse gehetzt, es werden Verschwörungsmythen verbreitet und der Nationalsozialismus verharmlost. Eine Recherche von Anthroposophie.blog mit Kommentaren der Sozialwissenschaftlerin Nora Feline Pösl.
„Ein ❤️🧡💛💚💙-liches Hallo an alle Mitglieder“. So begrüßt die Chatgruppe „Waldorf BW kritische Lehrer&Eltern“ ihre Teilnehmer_innen beim Instant-Messaging-Dienst Telegram. Die Gruppen-Leiterinnen Eltern und Lehrkräfte aus Baden-Württemberger Waldorfschulen geben sich harmlos: „In den Telegrammgruppen sind hauptsächlich liebevolle Mütter, die eine schöne Kindheit für ihre Kinder möchten„, schreibt eine Mutter.
Doch schon wenige Einträge weiter wird Angela Merkel mit Adolf Hitler verglichen und Deutschland 2020 mit einer Nazi-Diktatur. Die Grenze zwischen Informationen und alternativen Fakten, Verschwörungsmythen und Holocaustrelativierung verschwimmt dabei nicht nur.
In diesen Gruppen existiert schlicht keine Grenze mehr.
Waldorfpädagogik und Verschwörungsmythen
In der gesamten Waldorfbewegung, bei Lehrkräften und Angestellten, bei Eltern und sogar Schülern ist die Ablehnung von Corona-Schutzmaßnahmen groß. Damit geht oft ein tief sitzendes Misstrauen in Staat und Politik, Medien und Wissenschaft einher. So sind Waldorflehrer_innen und -Ausbilder in dutzenden Städten als Redner auf Querdenker-Demos beteiligt, klagen Schulen gegen die Maskenpflicht oder verbreiten Waldorf-Medien Polemiken über den Mund-Nasen-Schutz. Weil Lehrer_innen Corona leugnen und staatliche Schutzmaßnahmen umgehen, musste kürzlich sogar ein Schüler in Müllheim die Polizei rufen.
Die Ablehnung etablierter Medien treibt Anhänger der Waldorfschulen in halböffentliche Telegram-Chatgruppen, von denen es mittlerweile hunderte gibt. Zugang hat nur, wer den Weg in die Gruppen kennt oder von ihr eingeladen wird. Lehrkräfte und Waldorfeltern teilen dort auch höchst bedenkliche Inhalte: Die Ablehnung von Corona-Schutzmaßnahmen, Corona-Leugnung, Impfgegnerschaft, Verschwörungsmythen und Hass auf die angeblich „gleichgeschalteten“ Medien. Am befremdlichsten ist zudem eine häufig zu beobachtende Verharmlosung des Nationalsozialismus und des Holocaust.
Tauschbörse für Eigenatteste, Petitionen und Protestschreiben
Die Telegram-Kanäle dienen in erster Linie dem Austausch über die Waldorfschulen und ihren Umgang mit der Pandemie. Häufig werden Corona-Schutzmaßnahmen wie der Mund-Nasen-Schutz debattiert: Man tauscht Studien, Protestschreiben, Formbriefe für gerichtliche Klagen oder auch Eigenatteste zur Masken-Befreiung. Für gerichtliche Klagen wird ein „Musterschreiben-Generator“ der Gruppierung „Klagepaten“ empfohlen, mit dessen Hilfe man Gerichte, Schulen und Verbände mit tausenden von Schreiben überzieht. Die ersten Waldorfschulen haben vor dem Ansturm der Eltern-Anfragen bereits kapituliert.
Kindern Corona-Schutzmaßnahmen wie die „AHA-Regeln“ beizubringen (Abstand halten, Hygiene, Alltagsmaske tragen) wird als „geisteskrank“ bezeichnet: Man wolle damit „Kinder kaputt machen“.
In den vorgefertigten Schreiben wird Schulen gedroht, dass man sie „strafrechtlich zur Verantwortung ziehen“ würde, wenn sie Kindern „Gewalt (physisch oder psychisch)“ insbesondere durch das „Zwingen zum Aufsetzen und Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung“ antun würden. Aber auch präventive schriftliche Verweigerungen von PCR-Tests oder „Zwangsimpfungen“ von Kindern in Schulen werden verbreitet.
„Waldorfpädagogik durchlebt jede Krankheit“
Manche Eltern nehmen ihre Kinder sogar von der Waldorfschule, um sie vor Corona-Schutzmaßnahmen zu schützen. Die werden als wesentlich schlimmer empfunden als die Gefahr durch das Coronavirus selbst. „Liebe Maskenträger, ihr seid das Problem, nicht Corona“ schreibt einer zwischen Kommentaren über „Maskenterror“ und „millionenfacher vorsätzlicher Körperverletzung“. „Impfkritische“ Waldorfeltern befürworten nicht nur das Durchleben von „Kinderkrankheiten“ als positiv für die Entwicklung: Manche glauben, die Waldorfpädagogik sei ein Allheilmittel für das „Durchleben jeder Krankheit„.
„Meine Kinder wurden jetzt von mir alle abgemeldet. (…) Rudolf Steiner hätte sich im Grab umgedreht müsste er dieses spektakel mit ansehen! die Steiner pädagogik durchlebt jede krankheit und vertraut auf ihren körper. Es bricht mir das Herz um jeden Lehrer der dorthin getrieben wird. Ich habe den Lehrern geschrieben das ich es nicht zulassen kann das meine Kinder, ihre Lehrer so sehen müssen, mit einer Maske im Gesicht das ist eine demütigung einer vertrauensperson vor meinem kind, das ist ihr mentor, das dulde ich nicht (…)“ (Telegram-Nutzerin „suzy“, „Waldorf BW kritische Lehrer&Eltern„, Oktober 2020)
Wie groß der Widerstand gegen Staat, Presse und Wissenschaft bei Verfechtern der als manchmal sektenhaft kritisierten Waldorfschule ist, lässt sich erahnen. Man vertraut nur den eigenen Ansichten, man lehnt Medien jeder Art ab, man „denkt noch selbst“:
„Waldorf hat ein unbesiegbares Urvertrauen, Waldorf ist selbstständiges denken, starke Wurzeln, Waldorf ist selbstbestimmt, Waldorf ist frei von medialen Einflüssen, Waldorf hat keine Angst!“ (Telegram-Nutzerin „suzy“, „Waldorf BW kritische Lehrer&Eltern„, Oktober 2020)
In der hellseherisch begründeten Weltanschauung Anthroposophie, auf der die Waldorfpädagogik basiert, glaubt man, dass Gedanken zu Realität werden können. Denkt man oft in Furcht an das Coronavirus, dann zieht man es magisch an. Die überall sichtbaren Masken würden Kindern angeblich eine ständige Angst vor Corona einflößen, und sie dadurch zusätzlich gefährden. Nicht zuletzt hat das Durchleben von Krankheiten laut der esoterischen Weltanschauung einen karmischen Sinn.
Atmungsaktive Masken
Manche Waldorfpädagog_innen tragen grob gehäkelte Masken zur Arbeit, um die Corona-Auflagen gleichzeitung zu erfüllen und lächerlich zu machen. Bei Telegram wird debattiert, wie man „sehr dünne“ Masken herstellen kann, und „atmungsaktive“ Masken mit Löchern darin werden getauscht.
Zwangsimpfung: Werden Kinderrechte gegen Geld an den Staat abgetreten?
Im Telegram-Kanal werden teils längst widerlegte und gefährliche Impf-Mythen geteilt: Die kommende Corona-Impfung sei gefährlich, das Impfen sei die „Hauptursache für Krebs“ und verursache Autismus. Zu Wort kommt der Homöopath Martin Hirte, Gründungsmitglied des anthroposophie-nahen Vereins „Ärzte für eine individuelle Impfentscheidung“. Er spricht von „Corona-Fundamentalisten“, die den „Globus ins Verderben ziehen“. Auch der Impfgegner und AIDS-Leugner Hans Tolzin wird beworben. Beide veröffentlichen im rechtsextremen, verschwörungsideologischen und esoterischen Kopp-Verlag.
Auch impfgegnerische Zitate des Waldorfschul-Gründers Rudolf Steiner werden verbreitet: Laut dem Anthroposophen sollen Impfungen Kindern bereits in frühester Jugend „die Spiritualität austreiben“.
Ein besonders starker Verschwörungsmythos wird über das staatliche Corona-Kindergeld. auch Kinderbonus genannt, verbreitet. Akzeptiere man diesen Zuschuss, trete man vertraglich die „Rechte über seine Kinder“ an den Staat ab – die „Zwangsimpfung“ sei damit „sofort möglich!„.
Nach einer anderen Theorie würden die „Staatsmedien“ eine „Zwangsempfehlung“ der Ärztekammer verbreiten, nach den Kinder per „Nasenspray“ geimpft werden müssen. Deren Nebenwirkungen dienten dann als Vorwand zur Durchführung eines „nicht validierten PCR-Tests„, dessen falsch-positives Ergebnis zur Verordnung noch härterer Maßnahmen führen soll. Der PCR Test sei „ein DNA-Test“ um „uns zu zerstören“ und „alle unsere Gesundheitsdaten“ zu bekommen. Unklar ist, wie die DNA einen Zugang zu Daten der Krankenkassen möglich machen soll.
Corona-Leugner und Pandemie-Leugner
Bei Telegram finden sich selbsterklärte „Corona-Leugner“ und „Pandemie-Leugner“. Worte wie Infektionen oder Pandemie kommen häufig nur in Anführungszeichen vor. Wahlweise wird Die Coronavirus-Krankheit wird so als eine Erkrankung dargestellt die es, Zitat, „nicht gibt„, die Corona-Krise dadurch zur Inszenierung. Oder die Existenz des Virus wird nicht geleugnet, aber es wird als harmlos dargestellt. Wer so denkt, bezeichnet sich dann als „Pandemie-Leugner“.
Tote Kinder durch Masken: Gruppe verbreitet gefährliche Verschwörungmythen
Vielfach kursieren Mythen von am Tragend des Mund-Nasen-Schutzes gestorbener Kinder. „Masken als Todesursache„, „Drei gestorbene Kinder“ oder „6-jähriges Mädchen kollabiert und gestorben„, heißt es in den Chatgruppen. Videos mit diesen Meldungen solle man privat weiterzuverbreiten, da Youtube sie „wahrscheinlich löschen“ werde. Die Verschwörungsideologen nutzen dabei auch tatsächlich verstorbene Kinder, um deren Tod in perfider Weise als Folge des Maskentragens umzudeuten.
Dass Kinder wegen einem Mund-Nasen-Schutz „erstickt“ oder anderweitig zu Tode gekommen wären, bezeichnet Patrick Gensing vom ARD-faktenfinder als „gezieltes Gerücht“ und warnt: „Rhetorik und Aufrufe werden radikaler„.
Freude über Vandalismus: Unbekannte dekorieren Schulen wie Kindergräber
Auf solche Schock-Meldungen reagierten einige Eltern mit handfesten Protestaktionen. Im Oktober hatten Unterstützer oder Mitglieder der verschwörungsideologischen Gruppe „Eltern stehen auf“ nachts die Eingänge von mehreren Schulen zu Kindergräbern umdekoriert. Kreuze, Grablichter, Teddybären und Plüschtiere wurden abgelegt und Slogans wie „Wir jagen euch durch alle Gerichtssäle“ an die Türen geschmiert, berichtet die Stuttgarter Zeitung.
Mit Schildern wie „Ich kann nicht atmen!“ protestierten Unbekannte gegen die Einhaltung der Maskenpflicht an einer Filstaler Waldorfschule. Die Verantwortlichen haben symbolisch auch die Waldorfpädagogik zu Grabe getragen und zitieren Rudolf Steiners „Allgemeine Menschenkunde“ – was auf eine Beteiligung von Waldorf-Eltern hinweist.
Die Kanal-Inhaberin von „Waldorf BW kritische Lehrer&Eltern“ mit dem Usernamen „BrankaB“ lobt das geschmacklose Vorgehen als „tolle Aktion„, und Mitglieder ihrer Gruppe freuen sich mit. Nur einer vermutet, dass es sich bei Berichten über die Vorfälle um eine „Verdrehung der Presse“ handelt.
Lieber russisches Staatsfernsehen anstatt gleichgeschalteter deutscher Propagandamedien
Die öffentlich-rechtlichen Medien gelten in den Telegram-Kanälen als „Corona-Journalismus von GEZ-Lügenmedien„. Die Sonstige freie Presse seien „Mainstream-Medien“ und „gleichgeschaltet„.
Als glaubwürdige Informationsquellen gelten:
- Der staatliche russische Propagandakanal Russia Today mit seinem Webportal RT Deutsch.
- Das verschwörungsideologische Internetportal Rubikon News
- Die Webseite KenFM des Waldorfschülers und Verschwörungsideologen Ken Jebsen
- Die Videos des Waldorfschülers und Verschwörungsideologen Daniele Ganser
- Die Bücher der Kinderprophetin Christina von Dreien
- Das rechtspopulistische Portal Unzensuriert.AT
- Samuel Eckert
- Heiko Schrang
Als anthroposophische Quellen dienen:
- Die Schriften des Hellsehers und Anthroposophie-Begründers Rudolf Steiner
- Die Schweizer Anthroposophie-Zentrale Goetheanum
- Anthroposophische ‚Mediziner‘ wie Georg Soldner, Harald Matthes oder Michaela Glöckler
Die anthroposophischen ‚Mediziner‘ machen spirituelle Gründe wie eine „mangelnde Beziehung zur Sonne“ für Lungenkrankheiten verantwortlich. Soldner rückte Kritikern seiner hellseherisch begründeten ‚Medizin‘ in die Nähe von Nazis, Glöckler rief zum Widerstand gegen den Überwachungsstaat auf und Matthes behauptete, dank der Behandlung mit Globuli aus Weltall-Meteoriten sei ihm noch kein Patient an COVID-19 gestorben.
Beliebte Stars der Szene mit ihren vom wissenschaftlichen Konsens abweichenden Meinungen sind:
- Sucharit Bhakdi (dessen Thesen seine ehemalige Universität Mainz „irreführend und falsch“ nennt)
- Wolfgang Wodarg (verbreitet auch laut der WHO „abwegige und falsche“ Thesen über die „Corona-Lüge“)
- Vandana Shiva (These: ‚Corona entstand durch genmanipuliertes Soja‚)
- Verschwörungsideologen wie Marco Rima oder Xavier Naidoo
Rechtsextremisten, Impfgegner und Verschwörungsphantasten
Häufig machen die Telegram-Gruppen Werbung für die rechtsoffenen und verschwörungsideologische Querdenken-Bewergung, die aus Stuttgart heraus Demonstrationen in ganz Deutschland organisiert hatte.
Stephan Kramer, Präsident des Amtes für Verfassungsschutz in Thüringen beobachtet, dass bei „Querdenken“ bundesweit „Rechtsextremisten, Reichsbürger, Impfgegner und Verschwörungsphantasten das Regiment übernehmen„. Reichsbürger wie der selbst ernannte „König von Deutschland“ (bei dessen „Krönung“ auch der rechtsextreme Geschäftsführer einer Rendsburger Waldorfschule anwesend war) kooperieren mit „Querdenken“. Sie lehnen den Staat ab und wollen ihre „eigenen Gesetze“ (Peter F.) etablieren.
Wie das die Tagesschau der ARD am 09. Dezember berichtet, beobachtet das Landesamt für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg als erstes in Deutschland die „Querdenken“-Initiative. Die Gruppe radikalisiere sich und sei durch Extremisten unterwandert:
„Die fortgeschrittene Radikalisierung der ‚Querdenken‘-Gruppierung im Land macht eine Beobachtung ihrer Organisationsebene durch unseren Verfassungsschutz unabdingbar“, sagte der Stv. Ministerpräsident und Innenminister Thomas Strobl.“ (Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration Baden-Württemberg, Pressemitteilung „Querdenken711 wird beobachtet„, 09.12.2020)
QAnon und die Anastasia-Bewegung
In einigen Einträgen wird auf Sekten verwiesen, zum Beispiel auf die rechtsesoterische Anastasia-Bewegung, das scientology-ähnliche Konzept von The Secret oder der rechtsextreme QAnon-Kult, der an eine „weltweit agierende, satanistische Elite“ glaubt, die „Kinder entführe, foltere und ermorde um aus ihrem Blut eine Verjüngungsdroge zu gewinnen“ (Wikipedia)
Die lieben Rechtspopulisten: Herman, Lengsfeld und die AfD
Die Telegram-Gruppen verlinken auf zahlreiche Rechtspopulisten wie die Verschwörungsmystikerin Eva Herman und bewirbt ihre Produkte, die beim rechtsextremen und pseudowissenschaftlichen Kopp-Verlag erhältlich sind. Frau Hermann wird dabei als „liebe Eva“ angesprochen.
Es wird eine Petition von Vera Lengsfeld beworben, die Kritiker der „Neuen Rechten“ zuordnen. Lengsfeld, die Deutschland laut Berichten von NDR Panorama für ein „besetztes Land“ hält, spricht auf AfD-Veranstaltungen oder beim „Neuen Hambacher Fest“, wo sie als „Corona-Leugnerin“ vorgestellt wird. Gegen ein angebliches „Framing“ durch die ARD wird auf einen Verschwörungsideologen von der rechtsextremen AfD verwiesen.
Als besinnliche Abwechselung gibt es ab und zu auch mal ein schönes Bild, zum Beispiel von einer „Waldorf-Krippe“ zum ersten Advent.
Danach geht es weiter mit Holocaust-Relativierung.
Verharmlosung des Nationalsozialismus: Deutschland als „Coronazien“
Das „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage“ von März 2020 wird verglichen mit der „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat„, mit der Hindeburg und Hitler eine Grundlage für die Diktatur der Nationalsozialisten geschaffen hatten. Damit wird Angela Merkel nicht nur durch die Bildsprache mit Adolf Hitler gleichgesetzt. Auch Gesundheitsminiter Jens Spahn habe ein „Ermächtigungsgesetz“ nach Hitlers Vorbild geschaffen.
Dazu kommentiert die Autorin von „Von Homöopathie und Handauflegen zur Hassideologie?„, die Sozialwissenschaftlerin Nora Feline Pösl von der Ruhr-Universität Bochum:
Pösl: Sich selbst sehen die Corona-Leugner_innen gerne als Opfer einer faschistischen Impfdiktatur, darum haben sie sich direkt mal einen gelben Davidstern (sog. „Judenstern“) mit den Worten „nicht geimpft“ aufs Shirt gepappt. Die Wissenschaftler_innen im Corona-Diskurs werden hingegen gerne mit Nazis verglichen: Es gab z.B. Aufkleber, die den Virologen Christian Drosten neben Josef Mengele zeigen, dem Lagerarzt von Auschwitz, mit den Worten „trust me, I’m a doctor“. Durch solche Mechanismen der Holocaustrelativierung wird versucht, die politischen oder argumentativen Gegner_innen, die Wissenschaft an sich und die politischen Akteur_innen sowieso durch das Framing als Nazitäter zu delegitimieren und sich gleichzeitig als verfolgte Opfer einer angeblich faschistischen Diktatur zu stilisieren, die sich gegen diese angebliche Unterdrückung zur Wehr setzen. Über die Abgrenzung nach außen wird das Gefühl von kollektiver Identität erzeugt und das eigene Handeln als Widerstand imaginiert – auch wenn dieser nur bedeutet, sich der Maske zu verweigern und andere Menschen unnötig in Gefahr zu bringen.
Um sich als Opfer einer barbarischen Diktatur darzustellen, scheut man keinen Vergleich. Wer Gesetze nicht einhalte, müsse damit rechnen, wie Anne Frank verfolgt zu werden. Die Baden-Württemberger Gruppe wirbt zudem für das Youtube-Video: „Geschichten aus Coronazien – Alles ein Experiment?„, in dem die Lage in Deutschland mit der Nazi-Diktatur verglichen wird.
Eine Mutter schreibt bei Telegram: Ihre Kinder, die an Waldorfschulen übrigens bemerkenswert oft Atteste zur Befreiung von der Maskenpflicht haben, sollten womöglich bald mit „Davids-Stern“ [sic!] gekennzeichnet werden.
„Während ihre Eltern sich selbst einen aufs T-Shirt drucken“, wirft Nora Pösl ein.
Mancher Telegram-Nutzer schafft sogar den Spagat, Maskenträger mit Trägern von Braunhemden und Hakenkreuz-Armbinden zu vergleichen, und mit Nazi-Jargon („Entartet„) vor den neuen Masken-Nazis zu warnen.
„So weit sind wir schon! Was früher die Armbinden mit dem entarteten Kreuz – getragen auf braunem Hemd – waren, sind heute die Masken der Mitläufer. Die Politik hat nichts aus den Schreckensjahren 1933-45 gelernt!„
Pösl: Ein Feindbild zu haben, um darüber die Infektionsschutzmaßnahmen und Unannehmlichkeiten als unnötig oder sogar als absichtsvolles Mittel der Bevölkerungsgängelung und Freiheitseinschränkung darzustellen und die Infektionsschutzmaßnahmen deswegen nicht zu befolgen, ist deutlich einfacher, als sich mit der Ohnmacht in einer Pandemie und damit verbundenen Maßnahmen abzufinden und sich selbst einzuschränken, um Rücksicht auf andere zu nehmen. So kann also die Corona-Pandemie dazu führen, dass sich Menschen verschwörungstheoretischen Erklärungen zuwenden, um die Maßnahmen als illegitim zu erklären, durch einen Gut-Böse-Dualismus einen Sündenbock dafür verantwortlich machen zu können, um dadurch die Komplexität der Gesamtsituation zu reduzieren und sich selbst der Verantwortung zu entziehen.
Man sieht diese Argumente oft: Man müsse Widerstand leisten, Deutschland sei kein freies Land, sondern eine Diktatur. So sein Bayerns Ministerpräsident Markus Söder ein „Diktator“. Es herrschten eine „Pandemie-Willkür“ und eine „Gesundheits-“ bzw. „Hygiene-Diktatur“. Schuld an der „Hexenjagd“ auf Gegner von Corona-Schutzmaßnahmen sei die „Polit-Klasse“. Es herrsche „Zensur“, ausgeübt zum Beispiel im Auftrag der „Pharmalobby“. Eine Selbstinszenierung als Kriegsgefangene in Guantanamo rundet das Bild ab.
Pösl: Bei der Querdenken-Demonstration im August versuchte ein Konglomerat aus organsierten Nazis, Reichsbürger_innen und Hippies gemeinsam mit Holocaustleugnern, deutschen Wut- und Hutbürger_innen und der Heilpraktikerin von nebenan, als Widerstand gegen die imaginierte Gesundheitsdiktatur, den Reichstag zu stürmen und das deutsche Kaiserreich auszurufen.
Nur weil man Nazi-Vergleiche benutzt, Nazi-Sprache verwendet und mit Nazis gemeinsam auf Demonstrationen marschiert, sei man noch lange kein Nazi, findet auch das Hausmagazin der Waldorfschule, die „Erziehungskunst“ in ihrer Ausgabe von Dezember 2020: Geflüchtete, die morden, würde man ja auch nicht unter Generalverdacht stellen. Menschen die keine Maske trügen würden dagegen mit „Rechtsextremen“ in „einen Topf“ geworfen“ und ihnen nahegelegt, sie „seien Mörder„.
Die Waldorfpädagog_innen und Waldorfeltern bei Telegram protestieren nicht einmal gegen die Verharmlosung des Holocaust oder den Vergleich mit den Schrecken des Nationalsozialismus. Die Einträge werden nicht gelöscht, sie weden nicht negativ von der Gruppe kommentiert.
Es scheint sich niemand daran zu stören.
Pösl: Die Hemmschwelle, mit Nazis gemeinsam zu agieren, ist gesunken– sofern sie überhaupt gegeben war- und die Grenze des Sagbaren verschiebt sich weiter, nach rechts außen und in Richtung Neuschwabenland.
Dies ist eine verdammt gefährliche Dynamik, zumal die vermeintlich bürgerliche Mitte (und so würden sich vermutlich nicht nur die Hutbürger_innen, sondern auch die meisten Anthroposoph_innen einordnen) nur zu gerne mit Hufeisen spielt, ohne sich selbst und die eigenen Rassismen und antisemitischen Stereotype als Teil des Problems wahrzunehmen, sondern diese vielmehr als Normalität ansieht, während die Forderung, Menschen aus Seenot zu retten von der vermeintlichen bürgerlichen Mitte als linksextreme Propaganda eingeordnet wird.
Die rechten Verschwörungsmythen zu Corona fallen auf einen nährreichen Boden nie aufgearbeiteten Antisemitismus, gedüngt mit fehlender Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Bezug auf die eigene Familiengeschichte und einem zunehmend offen geäußerten Rassismus – hier finden sie ein optimales Klima, um zu keimen und weitere abstruse Auswüchse von Verschwörungsideologien, einer Täter-Opfer-Umkehr und die Selbstinszenierung als Verfolgte einer vermeintlichen Hygienediktatur hervorzubringen. Durch diese Mechanismen können sowohl jegliche Verweigerung von Infektionsschutzmaßnahmen als auch Gewalttaten und Anschläge gegenüber den konstruierten Feindbildern (z.B. Christian Drosten, dem RKI oder Kritiker_innen) als Widerstand imaginiert und dadurch von den Anhänger_innen der Ideologien als legitim betrachtet werden.
Ähnliche Muster in allen Telegram-Gruppen der Waldorfbewegung
In allen Telegram-Kanälen der Waldorfbewegung finden sich Verschwörungsideologien, der Hang zu „alternativen“ Informationsquellen und Offenheit für rechte Positionen. Bei den Baden-Württembergern von „Waldorf BW kritische Lehrer&Eltern„, bei der Nordrhein-Westfälischen Gruppe „In Bewegung – Pädagogik nach Rudolf Steiner“ (vormals: „Waldorfpädagog*innen für Aufklärung„) oder der Bayerischen Gruppe „Mut zur Wahrheit an Waldorfschulen„.
Weitere Regionalgruppen „kritischer“ Waldorfpädagog_innen und Eltern sind alleine im Süddeutschen Raum Gruppen aus Aalen, Schopfheim, Mannheim, Überlingen, Lörrach, Ravensburg, Raststatt, Schwäbisch Gmünd, Villingen-Schwenningen oder Stuttgart. Aber auch Gruppen außerhalb Baden-Württembergs verlinken sich untereinander. Und in allen Gruppen finden sich Links zu Verschwörungsideologen, Desinformationsportalen und Rechtspopulisten.
Im Fact Sheet „Proteste in der Corona-Pandemie: Gefahr für unsere Demokratie?“ des Instituts für Demokratie und Gesellschaft aus Jena heißt es, radikale Rechte nutzten die Corona-Pandemie für ihre eigenen Zwecke. Das Institut analysierte dabei die stark wachsende Anzahl von Telegram-Gruppen mit „Corona-Kritik“. Unter den größten Kanälen sind viele, auf die auch aus Waldorf-Telegramkanälen verweisen wird, darunter EvaHermanOffiziell, Kenjebsen, samueleckert, Xavier_Naidoo oder die Querdenken-Bewegung. Diese habe eine „wichtige Scharnierfunktion zwischen „bürgerlichem Protest“ und Rechtsaußen – online und offline.“
Waldorfbund relativiert, besänftigt und alarmiert zugleich
Einigen Waldorfpädagog_innen und Waldorfeltern ist der lavierende Kurs des Waldorf-Bundes zum Thema Corona zu weich. Der Waldorf-Bund sei wahrscheinlich bereits unterwandert, vermuten manche. Der Bund wehre sich nicht entschieden genug gegen vermeintliche Zwangsmaßnahmen. In Videos warnt der Liedermacher Eloas Min Barden gar vor einer „sozialistischen Unterwanderung“ der Waldorfschulen. Wegen staatlicher Vorschriften und Regelungen, die nun in die selbst verwalteten und oft abgeschotteten Privatschul-Refugien dringen, sorgt man sich: „Wie frei ist eine Freie Waldorfschule noch??“
Der Bund der Freien Waldorfschulen rät offiziell, „dem Gesundheitsschutz dienenden Maßnahmen Folge zu leisten“ – was genau aber dienlich heißt, scheint für den Bund Auslegungssache zu sein. Weiter heißt es, man gebe „keine Empfehlungen zu medizinischen Fragen„.
Im Gegensatz dazu schreibt das Waldorf-Hausmagazin Erziehungskunst im November, „Masken behindern Kommunikation“ und „lassen einen das eigene Kohlendioxid wieder einatmen“. In der Pandemie das Singen und Musizieren wegen „Aerosolen“ und „Abstandspflicht“ zu unterlassen, tangiere „die Würde des Menschen„. Das kann man als Verständnis dafür deuten, wenn „menschenunwürdige“ und als für gefährlich gehaltene Maßnahmen unterlassen werden. An anderer Stelle vergleicht man das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes mit dem Tragen einer „Burka“, mit einem Mittel der „sozialen Kontrolle und Regulierung politischer Macht.“
Diese zumindest in Frage zu stellen, hält der Vorstandssprecher des Waldorf-Bundes Henning Kullak-Ublick für notwendig: „Ob eine Maskenpflicht für Kinder im Grundschulalter mehr schadet als nützt, muss man sich als Lehrer doch fragen dürfen„, sagte er vor wenigen Tagen der Stuttgarter Zeitung. Gleiches wiederholte er in einem aktuellen Spiegel-Interview: Es sei berechtigt, „wissenschaftliche Belege zu fordern„, nahm er Corona-Leugner in der Lehrerschaft einer Müllheimer Waldorfschule in Schutz.
Verborgene Wahrheiten hinter den Weltvorgängen
Corona-Leugner, Querdenker und Anthroposophie-Gläubige eint eine große Verschwörungserzählung:
- Man misstraut den „Mächtigen“ in Medien und Politik, Wissenschaft in Medizin.
- Nichts ist, wie es scheint – es gibt verborgene Wahrheiten, die nur Eingeweihte kennen.
- Hinter den Kulissen ziehen dunke Mächte die Fäden – oft eine kleine mächtige Gruppe, eine Elite.
- Nichts ist Zufall, alles ist miteinander verbunden.
- Gut/Böse-Denken.
Die „wahren geistigen Zusammenhänge der aktuellen Situation“ könne man „nur durch die Anthroposophie erkennen„, schreibt eine Teilnehmerin aus Überlingen. Ein anderer meint in der Gruppe Südbayern, das heutige Weltbild sei eine „Lüge„, und hinter den „Weltvorgängen“ gäbe es „verborgene Wahrheiten„:
„Und man muß so weit gehen, zu sagen, das heutige Weltbild ist in sehr viel größerem Umfang eine Lüge, als man gewöhnlich anzunehmen bereit ist. Rudolf Steiner kannte die Wahrheit hinter den Weltvorgängen wie kaum ein anderer und setzte sich in vollem Umfang für deren Verbreitung ein. Er versuchte, die Menschheit in den Stand zu versetzen, die Wahrheit erstmalig aus eigener Kraft zu erkennen.„
Verschwörungsmythen sind regelmäßig antisemitisch geprägt. In der selben Gruppe beruft man sich auf ein Zitat Rudolf Steiners: Die Demokratie sei ein Trugbild, aufgebaut von „dunklen Mächten„, gesteuert von ausbeuterischen „Finanzleuten„, die im Verborgenen an den „Drähten ziehen„. Das Zitat lautet im Volltext:
„[Menschen] merken nicht, daß diese Strukturen der Demokratie so sind, daß immer ein paar Menschen an den Drähten ziehen, die andern aber werden gezogen (…). Dadurch können aber die dunkeln Mächte gerade am allerbesten wirken. Und wenn einmal einer aufwacht, so wird er eben nicht berücksichtigt. Interessant ist es, wie 1910 einer den schönen Satz geschrieben hat, daß es dem Großkapitalismus gelungen sei, aus der Demokratie das wunderbarste, wirksamste, biegsamste Werkzeug zur Ausbeutung der Gesamtheit zu machen. Man bilde sich gewöhnlich ein, die Finanzleute seien Gegner der Demokratie, schreibt der betreffende Mann – ein Grundirrtum; vielmehr seien sie deren Leiter und deren bewußte Förderer. Denn diese – die Demokratie nämlich – bilde die Spanische Wand, hinter welcher sie ihre Ausbeutungsmethode verbergen, und in ihr fänden sie das beste Verteidigungsmittel gegen die etwaige Empörung des Volkes.“ (Rudolf Steiner, „Vorträge vor Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft„, Gesamtausgabe Band 177, S.265, 1917)
Steiner vermischt hier gleich mehrere klassische Verschwörungserzählungen und dient als exzellentes Beispiel, warum seine esoterische Weltanschauung Anthroposophie viele Merkmale eines Verschwörungsmythos in sich trägt. Es verwundert daher nicht, dass Anthroposophie-Anhänger oft auch ein gefestigtes verschwörungsideologisches Weltbild haben.
Heute gibt es in den klandestinen Chatgruppen und auf den Querfront-Demonstrationen keine klare Grenzen mehr zwischen Esoterikern, Verschwörungsideologen und Nazi-Verstehern. Viele Menschen in der Waldorf-Bewegung sehen sich in die Enge getrieben: im Widerstand gegen eine Diktatur, gegen ein unmenschliches System, dass ihnen die Rechte nimmt und ihren Kindern Gewalt antut. Wann werden sie sich wehren? Mit wem sind sie noch bereit, zu paktieren?
„Der ideale Untertan der totalitären Herrschaft ist nicht der überzeugte Nazi oder der engagierte Kommunist, sondern Menschen, für die die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion, wahr und falsch, nicht länger existiert.“ (Hannah Arendt, „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft„, 1955)
Esoterische Querdenker sind bereit, fast alles zu glauben und beinahe jedem nachzufolgen. Vielleicht sind sie damit dem von ihnen beklagten totalitären Denken näher, als sie glauben.