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Anthroposophische Medizinethik-Veranstaltung in der Gedenkstätte KZ Buchenwald?

Das „Integrierte Begleitstudium Anthroposophische Medizin“ der Universität Witten-Herdecke wirbt auf Facebook für ein „Seminar in der Gedenkstätte KZ Buchenwald“. Die Gedenkstätte distanziert sich von der Veranstaltung und von der Ideologie des Anthroposophie-Gründers Rudolf Steiner.

Auf Facebook wirbt das „Integrierte Begleitstudium Anthroposophische Medizin“ (IBAM) der Privatuniversität Witten/Herdecke für einen Vortrag des Anthroposophen Peter Selg. Den Vortrag bebilderte man mit der Information „Seminar in der Gedenkstätte KZ Buchenwald“ und einem Schockfoto von halbtoten KZ-Insassen (Verpixelung durch Anthroposophie.blog). Die Wahl des Bildes als Werbeträger ist dabei ebenso geschmacklos wie die offenbar konstruierte Verbindung zur Gedenkstätte oder das Thema „Medizinethik“ für die auf Hellseherei basierende Pseudomedizin nach dem Hellseher Steiner.

Die Information, dass das Seminar „in der Gedenkstätte KZ Buchenwald“ stattfinde, findet sich auch auf der Internetseite des „Begleitstudiums“ und der Internetseite der Universität Witten/Herdecke, wo das selbe Bild verwendet wird. Doch die Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora distanzieren sich umgehend.

Gedenkstätte Buchenwald distanziert sich von Veranstaltung und von Rudolf Steiner

Nach meiner Veröffentlichung der Bilder auf Twitter distanzierte sich die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora umgehend: Die Veranstaltung finde nicht dort statt. Zudem sehe man die Ideologie des Anthroposophie-Gründers Rudolf Steiner kritisch:

Diese Veranstaltung findet NICHT in der Gedenkstätte Buchenwald statt und wir sind nicht involviert. Die Ideologie von Rudolf Steiner wird auch von uns kritisch gesehen – nicht erst seit der Verbreitung von Querdenken-Verschwörungslegenden auch durch Steiner-Anhänger*innen.“ (Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora auf Twitter, 28.01.2021)

Da die Einführungsveranstaltung am 28.01.2021 als Online-Vortrag stattfand ist es noch noch unverständlicher, warum die Veranstalter an mehreren Stellen behaupten, man würde diese in der Gedenkstätte durchführen. Nach meiner Veröffentlichung der Bilder auf Twitter entschuldigte sich die anthroposophisch geprägte Privatuniversität Witten/Herdecke tags darauf für die „missverständliche Formulierung“:

„Das Seminar fand nicht in der Gedenkstätte statt. Es handelte sich dabei um einen Online-Vortrag. Die Ankündigung war missverständlich formuliert und dafür entschuldigen wir uns im Namen des IBAM. Auf der Website wird angezeigt, dass es sich um eine digitale VA handelte.“ (Uni Witten/Herdecke @UniWH auf Twitter, 29. Januar 2021)

Die Universität und auch ihr Institut löschten die Ankündigungen auf ihren Webseiten später kommentar- und ersatzlos – eine Kopie im Internet-Archiv liegt vor. Die zuvor beworbene Veranstaltung findet also weder in der Gedenkstätte, noch zusammen mit der Gedenkstätte statt. Allerdings soll es einen Exkurs geben – die Universität Witten/Herdecke hat dazu eine Besuchergruppe angemeldet, die die Gedenkstätte unter Führung Peters Selgs besuchen soll. Dazu später mehr.

„Medizinethik“ – allein das Thema erscheint wie ein Hohn, geht die Anthroposophie doch davon aus, dass Krankheit, Leid und Behinderung karmisch bedingt sind: Sie sind durch eigenes Verschulden in vorherigen Leben nicht nur selbst verschuldet, sondern das eigene Schicksal zu Durchleiden sei zutiefst notwendig. So erklärt sich nicht nur die breite Ablehnung von Impfungen innerhalb der esoterischen Gemeinschaft, sondern auch ein manchmal mitleidsloser Umgang mit Menschen mit Behinderungen, denen eben nicht zu viel unverdienter Hilfe zu Teil werden sollte.

Auch die von Anthroposophen zumeist behandelte „Disharmonie“ der von ihr angenommenen unsichtbaren Äther- und Astralleibe des Menschen mit hellseherisch-kosmologisch begründeten Mittelchen spricht eine deutliche Sprache gegen eine vorgebliche „Ethik“ in der anthroposophischen ‚Medizin‘, die in weiten teilen außerhalb der Wissenschaft steht und deren meisten Mittel als Pseudomedizin ohne Wirknachweis gelten.

Anthroposophie: 100 Jahre Rassismus-Vorwurf

Die Anthroposophie steht nicht zuletzt wegen rassistischer und antisemitischer Aussagen ihres Gründers in der Kritik. Neben unzähligen abwertenden und beleidigenden Aussagen über „wilde Rassen“ wie „Indianer“ oder die „N-Wort“ ist ein Element von Steiners Lehre die aus der Theosophie stammende Wurzelrassen-Lehre. Nach Steiner ist der geniale, weiße „Arier“ die Spitze der Evolution – niedere „Rassen“ dagegen seien nicht entwicklungsfähig und zum „Niedergang“ bestimmt. Folgerichtig stellte die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien über ein Werk des Anthroposophie-Gründers Rudolf Steiner fest:

Nach Auffassung des Gremiums finden sich im Achtzehnten Vortrag vom 3.5.1909 (S. 277-294) Textpassagen, die aus heutiger Sicht als Rassen diskriminierend einzustufen sind, weil der Autor darin Menschen verschiedener ethnischer Herkunft aufgrund körperlicher Merkmale in unterschiedliche Wertungsstufen einteilt.“ (Entscheidung Nr. 5506 der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, 6. September 2007)

Eine Distanzierung von menschenverachtenden Elementen der esoterischen Glaubenslehre erfolgte bisher nur vereinzelt. Mit einer systematischen Aufarbeitung will man aber in diesem Jahr beginnen – fast 100 Jahre nach dem Tod Rudolf Steiners. Bisherige Bemühungen um eine Auseinandersetzung mit dem Rassismus in der Anthroposophie liefen oft auf Verharmlosungen und Relativierungen hinaus. Auch das neue Projekt „Anthroposophie – zur Rassismus- und Antisemitismuskritik“ macht da wenig Hoffnung.

Humanistisch sei man und kosmopolitisch. Der Anthroposophie sehe sich aber „pauschalen Vorwürfen“ ausgesetzt, die ihr „öffentliches Bild schädigen“ – dagegen will man vorgehen. Die Behauptung, Steiner sei Rassist gewesen, würde von „einigen Publikationen, Medienberichten und auf Social Media“ vertreten – das klingt nach einer geringen Anzahl von Blogautoren und Pressemenschen, die die sehr, sehr wenigen, ja quasi nicht vorhandenen Rassismen Steiners unnötig breittreten, um „die Anthroposophie als Kulturimpuls und sozial-spirituelle Bewegung pauschal zu diskreditieren“.

Vortragender Anthroposoph Selg deutet Rassismus zum Antirassismus um

Einer der Anthroposophen, die Steiners Rassismus zum Antirassismus umdeuten wollen, ist der Vortragende Peter Selg. Der hatte nach einem kritischen Artikel von Annika Brockschmidt in der Zeit die Anthroposophie in einem offenen Brief von September 2020 als „in ihrem Wesen antirassistisch“ bezeichnet. Kritik warf der Anthroposoph als „Polemik“, „Diskriminierung“ und sogar als „Extremismus“ beiseite. Dabei wiederholt er die selben Ausflüchte, die man aus der esoterischen Glaubensgemeinschaft seit Jahrzehnten hört: Steiner werde nur falsch verstanden, Rassismus käme in seinem riesigen Werk nur in homöopathischen Dosen vor, die Anthroposophie sei in ihrer Praxis überaus erfolgreich – man kennt das.

Insbesondere streitet Selg eine von Kritikern angeblich „untergeschobene“ Verbindung von Esoterik und rechten Ideologien ab, gleichwohl diese bei den Querdenken-Demonstrationen gegen Corona-Schutzmaßnahmen als Massenphänomen auftraten. Aktuelle Studien deuten jedoch auf eben diese Vermischung von esoterischen, anthroposophischen Ansichten mir rechtsoffenen oder rechtsextremen Ansichten hin. Die Querdenker-Szene trage „antisemitische, antiautoritäre und anthroposophische Züge„, meldet der Informationsdienst Wissenschaft unter Berufung auf die Baseler Studie „Politische Soziologie der Corona-Proteste„.

Selg neben Sommerfeld Gastautor für populistisches Blog

Ein weiterer Steiner-Relativierer ist der umstrittene Schweizer Anthroposoph Lorenzo Ravagli. Der esoterische Autor, dessen Texte – beispielsweise über einen angeblichen „Gender-Rassismus“ – ins Extremistische tendieren, stand in der Kritik, als er ein Buchprojekt zusammen mit dem rechtsextremen NPD-Spitzenfunktionär Andreas Molau plante. Das Projekt sagte Ravagli ab, gab sich aber trotzig: Es sei ihm wichtig, „rechte Ideologen nicht pauschal abzulehnen„, sondern sich mit ihnen auseinanderzusetzen. In seinem Buch „Unter Hammer und Hakenkreuz“ verkläre er Steiner, blende dessen Rassentheorien aus und unterziehe sie keiner Kritik, so der Religionswissenschaftler Helmut Zander.

Peter Selg ist Autor für Lorenzo Ravaglis Blog. Im Mai 2020 schrieb Selg dort einen Artikel, in dem er den „Abbau der Meinungsfreiheit“ auch durch die „Skeptiker“-Bewegung beklagte:

„Ich bin darüber hinaus der Auffassung, dass ein Abbau oder Rückbau des Pluralismus, der Meinungsfreiheit, der Lebensvielfalt auch im wissenschaftlichen Bereich seit Jahren zu beobachten ist. (…)

Der methodische Wissenschaftspluralismus (…) erscheint mir in Auflösung begriffen, und auch die »Skeptiker« sind nur ein Symptom dieses Rückgangs, ein Symptom einer autoritären Normalisierung und Regulierung des Wissenschaftsbetriebs, ein Ausdruck der fiktionalen und dogmatischen Behauptung: es gäbe die Wissenschaft, eine einheitliche und einzige, normative.“

Auf der Webseite des Waldorf-Redakteurs kommt neben Selg auch die Neurechte Unterstützerin der Identitären Bewegung, Frau Dr. Caroline Sommerfeld in einem eigenen Artikel zum Thema „Denkverbote“ zu Wort. Doch Ravagli sorgt vor: Wie Sommerfeld für „Sezession“ zu schreiben, sei gar nicht rechts, die „Identitären“ kaum eine Bewegung, überhaupt: „Potentielle Denunzianten“ werden vorbeugend aufgefordert, die „Meinungsfreiheit“ zu achten.

Das Projekt „Anthroposophie gegen Rassismus“ verweist ebenfalls auf Selg und seinen Vortrag „Anthroposophie in der Zeit des Nationalsozialismus“. Der gläubige Anthroposoph, der bei seinen Vorträgen über Stunden hinweg mit geschlossenen Augen und verklärtem Lächeln von der esoterischen Weltanschauung des Hellsehers Rudolf Steiner schwärmen kann, zeigt bisher eher wenig Distanz zum Werk seines Glaubensstifters.

Künftige Veranstaltungen von Anthroposophen in der Gedenkstätte sind fraglich

Anthroposophen, die die Anthroposophie untersuchen, kommen verdächtig oft zu dem Ergebnis, dass sie harmlos sei, liebevoll, und gut. Der Rassismus in Steiners Werk sei – so überhaupt vorhanden – unerheblich oder nicht so gemeint gewesen, lediglich zeittypisch oder gar von Feinden der Lehre böswillig falsch interpretiert. Solange keine Aufarbeitung von Steiners Rassismus und Antisemitismus durch eine neutrale Stelle erfolgt, darf und muss man da skeptisch sein.

Ob kommende Veranstaltungen der Anthroposophen, zum Beispiel ein für April 2021 geplanter Besuch der Gedenkstätte Buchenwald unter Führung von Peter Selg wirklich in der Gedenkstätte stattfinden dürfen, ist bislang unklar.


1 Gedanken zu “Anthroposophische Medizinethik-Veranstaltung in der Gedenkstätte KZ Buchenwald?

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