“Rudolf Steiner, der Jesus Christus des kleinen Mannes, ist in Paris
gewesen und hat einen Vortrag gehalten.
Ich habe so etwas von einem
unüberzeugten Menschen überhaupt noch nicht gesehen. Die ganze Dauer des
Vortrages hindurch ging mir das nicht aus dem Kopf: Aber der glaubt
sich ja kein Wort von dem, was er da spricht! (Und da tut er auch recht
daran.)
Wenns mulmig wurde, rettete sich Steiner in diese
unendlichen Kopula,
über die schon Schopenhauer so wettern konnte: das Fühlen, das Denken,
das Wollen – das ‚Seelisch-Geistige‘, das Sein. Je größer der Begriff,
desto kleiner bekanntlich sein Inhalt – und er hantierte mit
Riesenbegriffen. Man sagt, Herr Steiner sei Autodidakt. Als man dem sehr
witzigen Professor Bonhoeffer in Berlin das einmal von einem Kollegen
berichtete, sagte er: ‚Dann hat er einen sehr schlechten Lehrer gehabt
-!‘ Und der Dreigegliederte redete und redete. Und [der bekannte
Journalist Jules] Sauerwein übersetzte und übersetzte. Aber es half
ihnen nichts. Dieses wolkige Zeug ist nun gar nichts für die raisonablen
Franzosen.
Die Zuhörer schliefen reihenweise ein; dass sie nicht an
Langeweile zugrunde gingen, lag wohl an den wohltätigen Folgen weißer
Magie. Immer wenn übersetzt wurde, dachte ich über diesen Menschen nach.
Was für eine Zeit -! Ein Kerl etwa wie ein armer Schauspieler.
Alles aus zweiter Hand, ärmlich, schlecht stilisiert … Und das hat
Anhänger -!
Der Redner eilte zum Schluss und schwoll mächtig an.
Wenns auf der Operettenbühne laut wird, weiß man: Das Finale naht. Auch
hier nahte es mit gar mächtigem Getön und einer falsch psalmodierenden
Predigerstimme, die keinen Komödianten lehren konnte. Man war versucht
zu rufen: Danke – ich kaufe nichts.” (Kurt Tucholsky)
Quelle:
Ignaz Wrobel (Pseudonym von Kurt Tucholsky), Rudolf Steiner in Paris, [stark gekürzt] in: Die Weltbühne, Jg. 20, Nr. 27, 3. Juli 1924, II, S. 26–28
(via Wikipedia)